Menschenrechte: Bogen schlagen und fragen

Rassismus ist in den letzten Tagen auch bei uns in der Schweiz (endlich wieder) zu einem öffentlichen Thema geworden. In seinem Gastbeitrag fragt sich der LGBTIQ-Aktivist Max Krieg, wie sich LGBTIQ-Menschen in den Diskussionen rund um Rassismus verhalten. Und er macht auch einen wichtigen Bogen zu den Anfängen unserer LGBTIQ-Bewegung.

In Erinnerung an den Stonewall-Aufstand 1969: Marsha P. Johnson

Die Berufung auf die Menschenrechte zieht sich als roter Faden durch die LGBTIQ-Geschichte der letzten 90 Jahre.

Gastbeitrag von Max Krieg

  • In den 1930er Jahren setzten sich Lesben und Schwule in der Schweizer Liga für Menschenrecht für die gesellschaftliche Anerkennung von Lesben und Schwulen ein. Insbesondere konnte damit die Fassung des ersten einheitlichen Schweizer Strafgesetzes beeinflusst werden.
  • In der Zeit von «Der Kreis» (1942 bis 1967) lebte man dieses Menschenrecht «auf pure Existenz» unter dem Motto «möglichst nicht öffentlich auffallen/auftreten».
  • In der Schweiz waren Schwule in den 1960er Jahren entgegen den Menschenrechten einer andauernden medialen Diskriminierung und polizeilichen Repression ausgesetzt.
  • Im Juni 1969 führte die afroamerikanische trans Frau Marsha P. Johnson die Stonewall-Aufstände an der Christopher Street in New York an, auch gestärkt durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung (gegen rassistische Ausgrenzung und für die Menschenrechte).
  • Ab 1968 arbeiteten die Nachfolgeorganisationen von «Der Kreis», zuerst «Club 68», dann SOH (Schweizerische Organisation der Homophilen) verstärkt an der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebensformen – gestützt auf die Menschenrechte.
  • 1971 fanden die Studentenunruhen (und der Stonewall-Aufstand) in der Eröffnung der Disco Zabriski Point und der anschliessenden Gründung der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich durch die «Politschwestern» unter dem Schutz der Menschenrechte ihren Widerhall. Weitere Gruppen folgten in anderen Universitätsstädten.
  • Jedoch erst 1974 ratifizierte die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK (ausgearbeitet auf Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO), die ab dann auch offiziell Schutz vor Diskriminierung (in Artikel 14) bietet.
  • In den Gedenktagen an den Aufstand von 1969 (CSD, heute mehrheitlich Pride genannt) fordern wir Anerkennung und Nicht-Diskriminierung aufgrund der Menschenrechte.
  • Nur unter dem Schutz der Menschenrechte konnte in den 1980er Jahre die schwerwiegende Gesundheitskrise mit dem HI-Virus einigermassen gemeistert werden.
  • 1995 reichte Pink Cross als Gebot der Menschenrechte die Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare» (mit 85’000 Unterschriften) ein.
  • 1997 verlangte die Demo auf dem Bundesplatz (6000 Teilnehmende), dass der Schutz vor Diskriminierung gemäss der EMRK für Lesben und Schwule in der Bundesverfassung verankert wird.
  • 1999 wurde der entsprechende Nicht-Diskriminierungsartikel in der Bundesverfassung (Artikel 8) angenommen. Dabei wurden Lesben und Schwule mit dem verbrämten Begriff «Lebensform» berücksichtigt.
  • 2007 trat das Partnerschaftsgesetz in Kraft. Es wurde aufgrund der Petition von 1995 und der neuen Bundesverfassung (mit Nicht-Diskriminierung als Menschenrecht) ausgearbeitet. Es verankerte aber auch gesetzliche sanktionierte Diskriminierungen.
  • Im Februar 2020 entschied das Stimmvolk, in der Anti-Rassismus-Strafnorm auch die Bestrafung von Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung zu verankern, leider ohne gleichzeitig auch jene aufgrund der Geschlechtsidentität mit zu berücksichtigen.
  • Ebenfalls 2020 oder 2021 stehen wir mit den Gesetzesänderungen zur «Zivilehe für alle» hoffentlich vor der von den Menschenrechten gebotenen beinahe vollständigen Rechtsgleichheit (mit Samenspende, aber noch ohne AHV-Gesetz-Anpassung).

In all ihren Bestrebungen und Kämpfen beziehen sich die LG-B-T-I-Q-Vereine immer auf die Menschenrechte. Diese stehen jedoch nicht allein LGBTIQ-Menschen zu, sondern sind Teil des gesamten Schutzgebots vor Diskriminierung, sei es in der Allgemeinen Erklärung der, in der EMRK und in der Bundesverfassung bilden sie ein Ganzes und sind also unteilbar.

In aller Regel verstehen sich LGBTIQ-Vereine als Menschenrechtsorganisationen und als den Geboten/Verboten verpflichtet.

Wie verhält es sich aber mit den einzelnen Mitgliedern. Fühlen wir uns persönlich genauso verpflichtet?

Diese Frage habe ich mir gerade in den letzten Wochen aufgrund von Beiträgen und Kommentaren in den sozialen Medien manchmal gestellt:

  • Wie verhalten sich LGBTIQ-Menschen in den Diskussionen zu den Anti-Rassismus-Demos?
  • Wie stehen sie zum Racial Profiling, dessen Anwendung durch die Polizei und durch uns alle?
  • Wie fallen Kommentare zu Begriffen mit rassen(ethnie-)begründetem Hintergrund (ja ich meine auch diese luftig-süsse Schlemmerei) aus?
  • Warum empfinde ich, dass sich nicht alle LGBTIQ-Menschen bemühen, dem Nicht-Diskriminierungsgebot gegenüber anderen – ausserhalb und innerhalb der Community ‑ nachzuleben? [Zugegeben, ich muss meinen Gedankenblitz selbst oft auch an die Kandare nehmen und bin vor ethnisch begründeten Aus- (und Ein-)Grenzungen nicht immer gefeit.]

Damit schliesse ich den Bogen und frage mich und alle auch, ob das geistige Erbe der HA-Gründerzeit – also das von 1968 übernommene Überdenken des gesellschaftlichen Gefüges aus einer antiautoritären, ja revolutionären Sicht – für die heutigen HA-Gruppen noch eine Bedeutung hat?

  • Wie würden sich die Student*innen von 1971 heute verhalten?
  • Würden sich die Mitglieder von hab queer bern – aber bei weitem nicht nur sie allein – als antirassistisch verpflichten fühlen und auch über geschichtlich vermittelte Einstellungen und traditionelle, aus meiner Sicht überholte Begriffe nachdenken und sie überwinden?

Oder überlassen wir diese Haltung (bloss) der Milchjugend, die auf ihrer Website schreibt: «Die Milchjugend positioniert sich ganz klar antirassistisch. Wir wissen, dass auch in unseren Strukturen Rassismus vorkommt. Das wollen wir ändern. Dafür müssen wir noch einiges lernen.»