Ist der Schutz von Kindern verhandelbar?

  • Wird auch der Nationalrat trans und intergeschlechtlichen Kindern die Selbstbestimmung wegnehmen?
  • Welche Nachteile bringt die Vorlage erwachsenen trans und intergeschlechtlichen Menschen?

Zur vereinfachten Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens – ein Geschäft des Bundesrates – lässt sich mit Recht fragen: Ein Schritt nach vorne – und einer zurück. Vielleicht sind es aber auch mehrere Schritte rückwärts, wenn ich das Geschäft aus Sicht der Kinder betrachte.

Gastbeitrag von Mirjam Werlen

Das Geschäft kommt nun in den Nationalrat. Und weil der Ständerat als Erstrat es schon angenommen hat, ist ein langjähriges Hin und Her nicht ausgeschlossen. In solchen Fällen «gewinnt» meistens der Ständerat.

Die bestehenden Rechte der KINDER werden gegen die erleichterte Änderung des Geschlechtseintrages von ERWACHSENEN ausgehebelt

In der Botschaft heisst es richtigerweise, die Möglichkeit der Änderung des im Personenstandsregister eingetragenen Geschlechts bestehe seit Jahrzehnten. Die vorliegende Revision verfolge lediglich das Ziel, das anwendbare Verfahren zu vereinfachen.

Aber aus Sicht der Kinder will der Bundesrat dem Kind Rechte wegnehmen, die es aktuell gemäss Zivilgesetzbuch und der Rechtsprechung hat. Das steht z.B. im Widerspruch zur Praxis im Bereich medizinische Behandlungen. Denn die vorgeschlagene Lösung ist dem geltenden Artikel 260 ZGB nachgebildet. Die KOKES, eine der wichtigsten nationalen Institutionen des Kindesschutzes, hat dies in ihrer Stellungnahme klar kritisiert. Und die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin besteht in ihrer Stellungnahme darauf, dass das urteilsfähige Kind in einem so wichtigen und intimen Bereich des persönlichen Lebens allein und selbstbestimmt handeln können muss. Das ist mit der Scheinlösung des Bundesrates nicht mehr gewährleistet, denn die minderjährige trans Person (und soweit betroffen auch intergeschlechtliche Person) bedarf in Zukunft der Zustimmung der gesetzlichen Vertretung.

Die Sicht des Bundesrates ist vom einem «überholten Bild des Kindes als grundsätzlich inkompetente Person» geprägt, wie kürzlich Michelle Cottier zu einem Urteil des Bezirksgericht Einsiedeln schrieb. Dieses Gericht geht davon aus, dass das urteilsfähige Kind selbständig die Änderung von amtlichem Geschlecht und Vornamen verlangen können muss und kann. Eine Zustimmung der gesetzlichen Vertretung sei nicht notwendig.

Erhebliche Nachteile auch für Erwachsene trans Personen

Nebst der Vereinfachung des Verfahrens verfolgt die Revision drei Stossrichtungen:

  • Beibehaltung der Grundsätze für die Eintragung des Geschlechts bei der Geburt.
  • Beibehaltung der binären Geschlechterordnung.
  • Berücksichtigung der Interessen der Angehörigen und der spezifischen Situation von Kindern gegen die Interessen der volljährigen trans Menschen. Denn die Person, die das Kind geboren hat, wurde als Mutter eingetragen und bleibt trotz Änderung des Geschlechtseintrages «Mutter», obwohl er offensichtlich (nun) der Vater ist.

Es fehlt im Gesetz die Option für nicht-binäre Personen, eine Geschlechtskategorie zu wählen, die weder der männlichen noch der weiblichen Kategorie entspricht. Das verwundert nicht, denn sowohl der Chefjurist der Vorlage als auch zwei befragte Expert*innen zum Vorentwurf, wollen das Geschlecht als Kategorie abschaffen – wie ich mich darauf freuen würde. Wer wundert sich da über diesen Expert*innenvorschlag, denn einer solchen Ansicht würde eine weitere Geschlechtskategorie oder weitere Geschlechtskategorien widersprechen. Aber als Feministin muss ich auch sagen, dass die Abschaffung des Geschlechts als Kategorie eine reine Wunschvorstellung ist. Darauf werden wir noch Jahrzehnte warten müssen.

Weiter werden in der Vorlage eine ausländische Anerkennung und Eintragung nicht binärer Menschen (z.B. Deutschland), die in der Schweiz wohnen, leben, arbeiten und Steuern zahlen, nicht anerkannt. Es braucht ein im internationalen Verhältnis korrekte Nachtragung des Geschlechts jeder Person.

Es gibt kein ausdrückliches gesetzliches Verbot der Offenlegung (der Änderung des Familienstands), die mit Sanktionen einhergehen sollte. Damit werden Persönlichkeitsverletzungen weiter in Kauf genommen.

Eine Heiratsurkunde wird nicht angepasst (andere Dokumente werden ebenfalls betroffen sein). Das kann mit Fug und Recht als Verankerung einer Persönlichkeitsverletzung im Gesetz betrachtet werden.

Die Änderung des Geschlechtseintrags soll gemäss Artikel 30b ZGB Personen vorbehalten sein, die innerlich fest davon überzeugt sind, nicht dem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht zuzugehören. Nicht nur muss die Abgabe der Erklärung persönlich vor der Zivilstandsbeamtin oder dem Zivilstandsbeamten erfolgen, diese sollen auch die Möglichkeit haben, weitere Abklärungen vorzunehmen und ärztliche Zeugnisse zu verlangen. Wo bleibt hier die vielgerühmte Selbstbestimmung, wie sie die Botschaft erwähnt? Vor allem ist die Schweiz aufgrund internationaler Abkommen dazu verpflichtet, die Stigmatisierung, Diskriminierung und Stereotypen zu bekämpfen, insbesondere auf der Grundlage der Istanbul Konvention. Das geschieht nur dann, wenn jede Person, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer Geschlechtsmerkmale ihren Geschlechtseintrag ändern kann.

Die Definition des Geschlechts bzw. der Geschlechtsidentität (männlich oder weiblich) würde gesetzlich verankert: Es ist eine Strategie des Bundesamtes für Justiz, diese zu definieren, BEVOR die Botschaft zur dritten Option vorgeschlagen wird. Welche Geschlechtsidentität eine Person hat, ist aber keine innerliche Überzeugung, sondern ein Persönlichkeitsrecht und soll nicht vom Gesetz definiert werden.

Die wichtigsten Nachteile für Kinder

Es fehlt die Möglichkeit, die Frist für die Angabe von Vornamen und Geschlecht zu verlängern. Ein solcher provisorischer Geschlechtseintrag wäre für intergeschlechtliche Kinder wichtig (was technisch ohne Diskriminierung möglich wäre). Damit würde der Druck für geschlechtsverändernde Eingriffe (hormonell, chirurgisch) vermindert.

Intergeschlechtliche-Kinder (falls betroffen) und alle trans Kinder verlieren ihre Selbstbestimmung.

Die Vorlage des Bundesrates wird negative rechtliche Konsequenzen für ALLE Kinder in der Schweiz haben – es ist wie ein juristischer Präzedenzfall – eine Katastrophe für die Kinderrechte. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin schrieb denn auch in ihrer Stellungnahme (übersetzt): Das Erfordernis der Zustimmung der gesetzlichen Vertretung widerspricht der Systematik des ZGB (Art. 19 ff.).

Art. 19c Abs. 1 erster Nebensatz ZGB – die wichtigste gesetzliche Bestimmung zum Schutz von Kindern in einem Gesetz und eine der grössten Errungenschaften des schweizerischen Rechts – würde im Hinblick auf die selbstbestimmte Änderung des Geschlechtseintrages irrelevant werden.
Wenn wir akzeptieren, dass Eltern die höchst intime Geschlechtsidentität ihres Kindes nicht anerkennen müssen, wird vielleicht der Bundesrat auch plädieren, dass geschlechtsverändernde Eingriffe – ohne Einwilligung der Kinder – auch mit der Einwilligung der Eltern rechtens sind. Auch das ist aktuell nicht der Fall. Eine solche gesetzliche Verankerung der Zustimmung gemäss Art. 19c Abs. 1 zweiter Nebensatz ZGB würde von einem Gericht auf der Grundlage der UNO-Menschenrechtsübereinkommen und der schon erfolgten Empfehlungen nicht korrigiert werden können. Im Rahmen der EMRK wären jahrelange Prozesse vorprogrammiert, was die Arbeit von Menschenrechtsvereinen wie InterAction Suisse enorm erschweren würde.

Es wird im Gesetz neu eine Diskriminierung zum Nachteil von urteilsfähigen intergeschlechtlichen (falls betroffen) und trans Kindern – im Vergleich zu urteilsfähigen Erwachsenen eingeführt. Wie erwähnt, ist das aktuell nicht der Fall.

Eine Zustimmung der Eltern kann die schon traumatische Situation für die betroffenen trans Kinder verschlimmern, Suizidrisiken und ‑raten würden steigen. Weil beide Elternteile zustimmen müssen, können unterschiedliche Auffassungen der Eltern (solche Fälle gab es bspw. zur Knabenbeschneidung) oder ein Streit der Eltern während einer Scheidung, Entfremdungen durch einen Elternteil usw. das Kindeswohl erheblich gefährden. Das würde dazu führen, dass das (traumatisierte!) Kind die KESB oder schlimmstenfalls das Gericht anrufen müsste. Ich denke nicht, dass viele Kinder so viel Kraft haben, gegen die eigene Familie sich durchsetzen zu können.

Unsere Bundesverfassung gewährleistet allen Kindern und Jugendlichen das Recht auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auch auf Förderung ihrer Entwicklung. Es lässt sich mit Recht fragen, ob eine solche Gesetzesbestimmung in einer der intimsten Fragen unseres Lebens nicht verfassungswidrig ist. Das Recht auf Förderung ihrer Entwicklung wird von der Rechtswissenschaft und der Entwicklungspsychologie weithin anerkannt, aber durch eine spätere Änderung ihres Geschlechtseintrages und ihres Vornamens stark beeinträchtigt. Mit der Volljährigkeit hat das Kind seine Schulzeit beendet, hat in vielen Fällen schon eine Berufslehre oder Maturitätsschule begonnen. Eine verspätete Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens wird dem Recht auf Förderung der Entwicklung nicht gerecht und gefährdet das Wohl des Kindes.

Die rechtliche Bedeutung oder der Geltungsbereich des Übereinkommens über die Rechte des Kindes wird begrenzt, insbesondere was Art. 12 der Kinderrechtskonvention betrifft.

Einerseits hat der Bundesrat den Handlungsbedarf nach den Absätzen 1–3 erkannt. Abgesehen davon kann der Bundesrat bzw. die Schweiz auch aufgrund internationaler Verpflichtung nicht anderes tun, als den betroffenen Menschen die Änderung des Geschlechtseintrages und Vornamens schnell, transparent und mit einfach zugänglichen Verfahren zu gewährleisten (Resolution 2048 (2015), Menschenrechtsrat, A/HRC/29/23). Wenn aber andererseits Absatz 4 in Kraft tritt, wird es kaum eine Möglichkeit mehr geben, diese Bestimmung aus dem Gesetz zu streichen. Aus Sicht des Kindesschutzes ist das Risiko, dass die Absätze 1–4 gemeinsam in Kraft treten, zu gross.

Spezifische Situation intergeschlechtlicher Kinder

Aus entwicklungspsychologischer Sicht und aufgrund von Studien ist anerkannt, dass die Geschlechtsidentität bei Geburt nicht bekannt ist bzw. wie sie sich entwickeln wird. Bei intergeschlechtlichen Kindern kann das biologische Geschlecht nicht immer den gesellschaftlichen Geschlechternormen entsprechend festgestellt werden. Erfolgt eine chirurgische oder/und hormonelle Veränderung der Geschlechtsmerkmale nach der Geburt, die nicht mit der später sich manifestierenden Geschlechtsidentität übereinstimmt, muss die urteilsfähige intergeschlechtliche Person den Geschlechtseintrag und Vornamen selbstbestimmt, unbürokratisch und rasch ändern können. Der Bundesrat hat dies ausdrücklich anerkannt. Der Bundesrat ignoriert aber bis heute, dass der Geschlechtseintrag auch provisorisch erfolgen könnte.

Die Nachteile der gesamten Vorlage überwiegen gegenüber den Vorteilen

Zusammen mit der (bewussten) Trennung des Geschäfts 19.081 einerseits und der 3. Option andererseits durch den Bundesrat und den anderen oben erwähnten Nachteilen des Geschäfts (im Wesentlichen das sehr grosse Risiko, dass Abs. 4 zusammen mit den Abs. 1–3 in Kraft tritt) geht es v.a. auch darum die Abs. 1–3 auch für non-binäre Personen zu öffnen. Je länger ich darüber nachdenke, finde ich die komplette Vorlage echt mies und weitere Fortschritte würden auf eine jahrelange Bank verschoben. Ich denke auch nicht, dass der Bundesrat noch die Möglichkeit hat, eine dritte Option nicht vorzuschlagen (nachdem das auch vom Europarat und der UNO und von den Postulaten Arslan und Ruiz gefordert wird). Einen Handlungsbedarf zur erleichterten Änderung des Geschlechtseintrages hat er mit der Vorlage schon anerkannt. Und mit dem strategischen Entscheid des Bundesrates, die Vorlagen zur erleichterten Änderung des Geschlechtseintrages und der 3. Option zu trennen, sollte sich niemand abfinden.

Nichteintreten ist vernünftig und aus ethischer Sicht die richtige Entscheidung

Eine wichtige, auch ethische Frage ist die zu Beginn erwähnte Diskriminierung im Gesetz, die bestehenden Rechte der KINDER gegen die erleichterte Änderung des Geschlechtseintrages von ERWACHSENEN auszuhebeln. Und das mit einer Schwächung des gesamten Kindesschutzes, unabhängig von Geschlechtsidentität und Geschlechtsmerkmalen. Mit dem Inkrafttreten der Vorlage des Bundesrates würde eine «Kategorie» von urteilsfähigen Menschen (Erwachsene) von einer – wenn auch wichtigen – Erleichterung profitieren. Das aber nur teilweise, denn die überwiegende Anzahl von trans Menschen oder nicht-trans Menschen, die sich als nicht binär identifizieren, müssten über Jahre hinweg warten. Einer anderen «Kategorie» von urteilsfähigen Menschen (Minderjährige) würde aber ein Recht in willkürlicher Art und Weise (ganz) genommen.

Im Vernehmlassungsverfahren zum Vorentwurf haben mehrere teilnehmende Kantone (z.B. BL, GR), Organisationen und NGOs (z.B. Schweizerischer Verband für Zivilstandswesen, Eidgenössische Kommission für Frauenfragen, Amnesty, NGO-Koalition post Beijing Schweiz, Schweizerischer Katholischer Frauenbund, SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz) sowie die SP und die Grünen gefordert, die Vorlage zur erleichterte Änderung des Geschlechtseintrages zusammen mit der 3. Option zu behandeln. Die Vorlage ist darum rückständig und alles andere als ein Schritt nach vorne.

Dass die selbständige Legitimation aller Urteilsfähigen, unabhängig ihres Alters (oder einer Beistandschaft) nicht gewährleistet wird, wirft die Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten um Jahre zurück.

Wenn schliesslich die Botschaft schon die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin zitiert, dann hätte sie auch ein strafrechtliches Verbot von geschlechtsverändernden Eingriffen an Kindern vorschlagen müssen (hormonell, chirurgisch), soweit chirurgische Eingriffe nicht lebensnotwendig sind. Letzteres ist in sehr wenigen Konstellationen der Fall.

Nun, die Vorlage ist sowohl für voll- als auch minderjährige trans und intergeschlechtliche Personen und Kinder im Gesamten ungenügend. Ein Nichteintreten ist vernünftig und die ethisch richtige Entscheidung.