Seh ich dich im Fahnenmeer

Der Schweizerpsalm beginnt mit den Worten: «Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer». Wenn ich mich allerdings umgucke, sehe ich vor allem ein «Fahnenmeer». Es ist deshalb ein guter Tag, um über unsere Regenbogenfahne nachzudenken. Braucht es noch weitere Farben? Oder ist unsere Regenfahne so «traditionell», dass sie sich nicht verändern darf?

Die ursprüngliche Regenbogenfahne wurde von Gilbert Baker Ende der 70er Jahre geschaffen. Die Flagge bestand aus acht Farben: Pink stand für Sexualität, rot für das Leben, orange für Heilung, gelb für das Sonnenlicht, grün für die Natur, türkis für die Kunst, blau für Harmonie und violett für den Geist. Allerdings konnte Pink nicht industriell hergestellt werden und wurde deshalb weggelassen. Und wurde die Fahne in der Vertikalen aufgehängt, wurde der mittlere Streifen stets von der Stange verdeckt – deshalb wurde auch Türkis weggelassen. Diese sechsfarbige Version ist heute in Gebrauch.

Um queere People of color zu inkludieren, ergänzten die Aktivist*innen vor drei Jahren in der US-Stadt Philadelphia die Regenbogenfahne mit einem braunen und einem schwarzen Streifen. Die «Philly-Flag» ist entstanden.

Seither ist die Diskussion um weitere Farben für unsere Regenbogen entbrannt. Während der Pride in Bern im August 2017 hängten die Jungen Grünen ein Transparent auf, auf dem gepinselt war: «brown ist no colour of rainbow». Und vor einer Woche schrieb Kriss Rudolph auf der Webseite der «Mannschaft»: Lasst bitte die Regenbogenfahne in Ruhe!». Die Fahne zu erweitern sie der falsche Weg: «Nicht zuletzt, weil sich damit aktiv nichts verändert und die Gefahr besteht, dass jene, die die erweiterte Flagge schwenken oder deren Einsatz propagieren, weitere Schritte unterlassen, und sich auf dem Erfolg der zwei zusätzlichen Streifen ausruhe».

Anderer Meinung ist die Berner Stadträtin und LGBTIQ-Aktivistin Tabea Rai in meinem aktuellen Podcast. Noch vor ein paar Jahren empfand sie die Erweiterung als «nicht nötig». Doch gerade jetzt während der aktuellen Rassismus-Debatte habe sie ihre Meinung geändert. Viele Queers hätten vergessen, dass «grösstenteils schwarze trans Frauen zuvorderst an der Front für uns kämpften und unsere Rechte quasi darauf aufgebaut wurden».

In seinem Kommentar fragt Kriss Rudolph: «Wo ist überhaupt die Grenze?». Mich jedenfalls hat Kriss auf die Idee gebracht, die Regenbogenfahne nicht nur mit braun und schwarz zu ergänzen, sondern auch mit grau. Grau steht für die älteren Queers! Mich persönlich beschäftigt nämlich im Moment die Sichtbarkeit von älteren queeren Menschen und die fehlende Rassismus-Debatte innerhalb unserer queeren Community.

Fahnen haben immer auch mit Stolz zutun – sehr oft mit Nationalstolz. Deshalb ist es auch ein Statement, wenn gerade heute am Geländer meines Balkons eine Regenbogenfahne hängt. Flaggen symbolisieren oft auch Gruppen und Gemeinschaften. Symbole und Traditionen sollten sich aber verändern dürfen. So wie auch der M***kopf längst einen anderen Namen braucht, darf sich auch unsere Regenbogenfahne verändern. Quasi als sichtbares Zeichen, dass auch wir uns verändern, wir lernen und unsere Meinungen revidieren können.