«Was denn noch?!»

Queerfeindlichkeit nimmt zu – und zwar in der Mitte der Gesellschaft, sagt Autor und Blogger Johannes Kram. Und wenn queere Menschen auf Diskriminierungen hinweisen, sei immer häufiger die Antwort: «Was denn noch?!».

Der problematische Backlash, der unsere Minderheit bedrohe, finde nicht (nur) rechts oder eben in Ungarn oder Polen statt – der wirklich problematische Backlash finde gerade mitten unter uns statt: «Natürlich ist die Hetze von rechts brutaler als die sublime Abwertung, die durch die hochangesehenen Vertreter*innen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft kommt», schreibt Johannes Kram auf der Webseite des Bayerischen Rundfunks. «Es ist zu einfach und auch zu naiv, immer nur auf rechts zu zeigen, so als hätten wir mit all dem nichts zu tun. Nein, wir alle sind das Problem. Denn die Erzählung, die sich auch in unserer Mitte immer mehr durchsetzt, ist folgende: Wir haben ja nichts gegen queere Menschen, aber können diese bitte langsam mal die Klappe halten? Weil sie doch erstens keine wirklichen Probleme mehr haben oder weil sie in ihrem ständigen Lautsein, mit ihren angeblich überzogenen Forderungen die Gesellschaft spalten.»

So würden, ist Johannes Kram überzeugt, queere Minderheiten zu Sündenböcken für das, was in der Gesellschaft alles falsch läuft: «Es wird so getan, als ob wir die Privilegierten sind, die irgendwelche Befindlichkeiten, irgendwelche Luxusprobleme haben und deswegen die wirklichen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft aus dem Fokus geraten».

«Ist jetzt eigentlich für immer Pride?»

Quasi als Beweis für die Aussagen von Johannes Kram veröffentlichte am vergangenen Sonntag die «NZZ am Sonntag» einen Text von Christoph Zürcher. «Ich fand ja schon den Pride-Monat immer ein bisschen anmassend», schreibt da der Journalist einleitend. «Alle anderen, auch die Blinden, die Autisten oder die mit den entstellenden Hautkrankheiten, sie haben einen Tag, an dem man sich daran erinnern soll, dass auch sie Menschen mit Würde sind, aber nicht einen ganzen Monat».

Aber natürlich habe er nichts gegen uns, er «unterstütze die Inklusion aller sexuellen Randgruppen uneingeschränkt», aber selbstverständlich nur «solange sie auf etwas stehen, was rechtlich noch erlaubt ist». Doch mittlerweile habe «die Aufmerksamkeit, orchestriert von der LGBTQ-Lobby, aber ein Ausmass angenommen, dass es nervig wird». Und Christoph Zürcher befürchtet nun, dass die «positive Wahrnehmung sexueller Devianzen bei einer breiten Bevölkerungsschicht» eher anfange zu schaden: «Sie steht schlicht nicht mehr in einem adäquaten Verhältnis zur Zahl der Betroffenen, mag ihr Anliegen noch so berechtigt sein». Die Regenbogenbewegung strahle für ihn «mittlerweile eine gewisse Opfer-Hybris» aus. (Hybris – altgriechisch für «Übermut», «Anmassung» – bezeichnet eine extreme Form der Selbstüberschätzung oder auch des Hochmuts.)

Und natürlich macht der Journalist Zürcher eine Woche vor der Abstimmung den Bogen zur «Ehe für alle». Dagegen sei er nicht; und das Argument, Kinder brauchten Vater und Mutter, halte er für «einigermassen schwach». Aber der offenbar weit verbreitete Wunsch nach der «Homo-Ehe» enttäusche ihn: «Ist die Ehe nicht die Mutter aller heteronormativen Traditionen? Die Gay-Community, das war doch immer der Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt, die unkonventionellere, die wildere Welt». Ihm komme die «Homo-Ehe» wie eine Kapitulation vor. «Wäre ich schwul, dann wäre es, glaub ich, unter meiner Würde, um die Ehe zu betteln.»

Lieber Christoph Zürcher, über die «Homo-Ehe» haben wir im Juni 2005 abgestimmt, weil damals die gleichen Leute das Referendum ergriffen haben, wie jetzt bei der «Ehe für alle». Jetzt geht es nicht mehr um ein Sondergesetz, sondern um gleiche Rechte (und Pflichten) und nichts anderes. Wir betteln nicht um die Ehe, sie steht uns zu. Und für das Ja an der Urne werden wir uns am nächsten Sonntag auch nicht bedanken, sondern als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen …

Warum fällt es Menschen wie eben Christoph Zürcher so schwer, die Situation von uns queeren Menschen und die Probleme, die wir immer noch haben, zu erfassen und sich wirklich auf unsere Seite zu stellen? Woher kommen die Abwehrreflexe? Warum ist es so schwer geworden, über die Diskriminierung und Ausgrenzung zu reden, die es noch gibt? Und warum herrscht die Meinung vor, dass eher zu viel als zu wenig über LGBTQ-Probleme gesprochen wird? Die Antwort darauf – sie lässt sich problemlos auf die Schweiz übertragen – gibt Johannes Kram: «Der deutlichste Indikator dafür, dass an diesem bunten, liberalen und offenen Regenbogen-Deutschland irgendwas nicht stimmen kann, ist eine ganz einfache Zahl. Nur ein Drittel aller queeren Menschen in Deutschland sind out im Job. Nur ein Drittel aller Menschen trauen sich am Arbeitsplatz der oder die zu sein, der oder die sie sind. Ich glaube, dass heterosexuelle Menschen sich nicht vorstellen können, was das bedeutet, weil sie ja nie in einer Situation sind, in der ihre sexuelle Orientierung oder ihre Geschlechtsidentität etwas sein könnte, über das sie sich dauernd Gedanken machen müssten. Sich verstecken, dauernd auf der Hut sein müssen, abwägen müssen, das macht Stress.»