Die Sache mit den Schutzalter

Hinweis im HAB-Info vom Mai/Juni 1991

Für uns LGB-Menschen war das Jahr 2021 ein wichtiges Jahr: Am 26. September 2021 beschlossen an der Urne die Schweizer*innen die Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare. Damit wurde erreicht, was mit dem Erwachen unserer Emanzipation Ende der 60er-Jahre das Ziel war: Gleiche Regeln für das Zusammensein zweier Menschen.

Genau 90 Jahre vor der Öffnung der Zivilehe wurde 1931 während der Herbstsession des Ständerats das neue Strafgesetzbuch (StGB) diskutiert – vor allem der umstrittene Artikel 169 über Bestrafung homosexueller Handlungen unter Erwachsenen.

Auch wenn die damals abzeichnenden gesellschaftlichen Veränderungen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine Entkriminalsierung sprachen, gab es Widerstand. Und es wurden damals die gleichen oder ähnliche Begründungen vorgebracht, wie wir sie auch während dem Abstimmungskampf vor der Abstimmung zur «Ehe für alle» hören und lesen konnten mussten …

Ein Votum des damaligen Bundespräsidenten und Justizministers Heinrich Häberlin (FDP, TG) fasste – wie auf schwulengeschichte.ch nachzulesen ist – die Gegensätze zusammen. Seine Aussage ist für die Lage der homosexuellen Menschen jener Zeit charakteristisch:

«Wenn auch die Strafe diesen armen Leuten weggenommen wird, so bleibt nach unserer Volksauffassung die gesellschaftliche Ächtung ja doch auf ihnen lasten. Es bekennt sich kein einziger offen zu dem, was wir als Laster betrachten. Oder haben Sie schon jemand gesehen in der Schweiz offen auftreten und sagen, ich bin homosexuell? Sie werden mir keinen einzigen Menschen nennen können.»

Immer wieder verzögerten die Gegner die Verabschiedung des Gesetzes. Erst im Dezember war es soweit – worauf sie das Referendum ergriffen.

Am 3. Juli 1938 wurde das StGB an der Urne «vom Volk» dann knapp angenommen. Am 1. Januar 1942 trat es in Kraft, womit die Schweiz in Bezug auf Homosexuelle das liberalste Gesetz zumindest aller deutschsprachigen Gebiete Europas hatte, allerdings mit der Vorgabe, wie auf schwulengeschichte.ch zulesen ist, «dass sie sich still und unsichtbar verhalten».

Und es galt von da an:

  • Schutzalter von 20 (statt 18 wie bei heterosexuellen Beziehungen)
  • Bestrafung bei «Verführung» (ein willkürlich dehn­ba­rer Tatbestand)
  • Verbot der männlichen Prostitution (im Gegensatz zur weiblichen)

Ernst Ostertag schrieb dazu auf schwulengeschichte.ch: «Für die Ho­mo­se­xu­el­len be­deu­te­te das Er­leich­te­rung, Men­schen­wür­de und Stolz auf das eigene Land. Ihre Lage stand jetzt in scharfem Ge­gen­satz zur ak­tu­el­len Si­tua­ti­on im to­ta­li­tä­ren Europa.»

Die weiter be­ste­hen­den Dis­kri­mi­nie­run­gen wurden erst 1992 mit der all­ge­mei­nen Revision des Sexualstrafrechts beseitigt.

Aus dem HAB-Info vom April 1992