Heute Sonntag vor einer Woche: In Zürich ist im Tanzhaus einmal mehr Zeit für die «Drag Story Time». Die Vorlesestunde für kleine Kinder ist auch bei den «Grossen» beliebt und lebt von einem offenen Diskurs über Geschlechteridentitäten. Einen Tag später: In Frankfurt wird Kim de l’Horizon als erste nichtbinäre Person für ihren Roman «Blutbuch» mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.
Irgendwo lese ich, die Jury sei von Kims Roman «provoziert und begeistert» gewesen – und der Sieg überraschend, da im Roman «nichts Mainstream sei», lese ich an einem anderen Ort. Kim schreibe «jemensch» statt «jemand», «niemensch» statt «niemand», und «mensch» statt man, und dass störe den Lesefluss «erstaunlich wenig», wie ich ebenfalls irgendwo lese. Bisher habe ich vor allem über das Buch und über Kim gelesen. Aber ich werde den Roman auch noch lesen! Nicht weil er einen Preis gewonnen hat – doch, vielleicht auch. Ich werde es vor allem darum lesen, weil – wie Kim selber schreibt – der Text seines Buches einfach nicht «straight sein will».
Statt sich nun mit Kim und dem gekürten Buch auseinanderzusetzen, hagelt es überall queerfeindliche Beschimpfungen. Hass, der in der Zwischenzeit ein bedrohliches Ausmass angenommen hat, und Kim muss auf der zurzeit stattfindenden Frankfurter Buchmesse von einem Sicherheitsdienst geschützt werden.
Bedrohlich verlief auch die Lesestunde im Tanzhaus Zürich, wurde die Veranstaltung doch von einer rechtsradikalen Gruppe gestört. Als das Entrollen eines Transparentes im Veranstaltungsraum nicht gelang, wurde der Zugang zum Tanzhaus von rund neun Personen blockiert. Rauchfackeln wurden gezündet und Parolen skandiert. Das Tanzhaus schreibt in einer Mitteilung dazu: «Die Veranstaltung, die Künstler*innen und nicht zuletzt unsere Gäste wurden massiv gestört und erschreckt».
Das Tanzhaus wollte den Namen der Gruppe bewusst nicht nennen, ihr keine zusätzliche Plattform bieten, hat aber Anzeige erstattet. Andere Zeitungen haben den Namen genannt und ich habe mich auf deren Webseite umgeschaut – und mich zünftig erschrocken. Die Aktion vor dem Tanzhaus wird als «Blockade und ästhetische Intervention gegen die perverse Dragqueen-Geschichtenstunde für Kinder in Zürich» bezeichnet. Und in einem knapp dreiminütigen Video begründen zwei Mitglieder der Gruppe, ihre Vornamen nennend und ohne Masken, die «ästhetische Intervention». O‑Ton aus: «Unsere gesunde Kritik am Gender-Mainstream und an der Woke-Ideologie versucht man zu diskreditieren, mithilfe von reisserischen Headlines wie ‹Rechtsextreme randalieren› oder ähnlich erfundenem Inhalt». Die schwulen Männer, die sich als «Frauen verkleiden», seien zudem «unterwegs in dubiosen Kreisen, oder wirken in zwielichtigen Kollektiven mit».
Im Juni wird von einem queerfeindlichen Mob in Zürich der Pride-Gottes gestört und damals der gleichen Gruppe zugeschrieben, die nun die Drag-Lesestunde störte. Damals befragte kath.ch den Extremismus-Experten Fabian Eberhard. Die Mitglieder der Gruppe seien die «zurzeit wohl aktivste rechtsextreme Gruppierung der Schweiz und würden einen «gesunden Lebensstil» pflegen, sie seien «jung, hip – aber inhaltlich genauso radikal wie die klassischen Neonazis von früher». Und der Extremismus-Experte sagt klar und deutlich, dass die Gruppe «für LGBTQ-Personen klar eine Gefahr» darstelle.
Und schlussendlich frage ich mich, ob vermummte Gestalten mit Rauchfackeln oder Dragqueens in fantasievollen Kleidern Kinder mehr erschrecken.