Mein Wort zum Sonntag: Gegen den Strom

Die vergangene Woche war ereignisriech. Da war die Vorpremiere zum neuen Stadtrundgang über die queere Geschichte in Bern. Letzte Woche wurde auch bekannt, dass Russland das Verbot von «Propaganda» für «nicht traditionelle sexuelle Beziehungen» nochmals verschärft hat. Da waren aber auch die Medienberichte, dass bei Personensicherheitsüberprüfungen neu auch explizit die Intimsphäre und die Sexualität untersucht werden dürfen – und mich an eine gängige Praxis aus den 1990er-Jahre erinnert. Und: Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn lassen sich Zeit – gleichgeschlechtliche Paare können sich da ab 1. Juni 2023 trauen lassen.

Queer durch Bern

Die Vorpremiere zum neuen Stadtrundgang «Queer durch Bern» vom Verein StattLand von letzter Woche war für mich sehr emotional. Bereits beim Start am Läuferplatz vor dem Gebäude wo einst die Frauen der Lesbeninitiative Bern zuhause waren, weckte in mir Erinnerungen an früher. Da erzählte eine der beiden schauspielenden Personen von der Telearena von 1978, die sie mit den Eltern geschaut habe und die Eltern «schräg» auf das Thema reagiert hätten! Das ist auch «meine» Geschichte, hatte ich doch damals – mit 17 – die Telearena auch mit meinen Eltern geschaut.

Dann unten an der Nydeggtreppe wurde der Ursus Club, die Kommerzschwestern vom Club thematisiert und von der Feier zum 25 Jahre Jubiläum vom Club im November 1993 erzählt – ich war damals bei diesem grossartigen Fest dabei. Das war die Zeit als ich endlich mein Coming-out schaffte und ich mich begann, für den Verein Ursus Club zu engagieren. Die Kommerzschwestern seien damals politischer geworden – und als damaliger Chefredaktor der Vereinszeitung des Ursus Club habe ich da vielleicht sogar etwas beigetragen.

Und dann auf dem Mühlenplatz mit wehmütigem Blick hinauf in den 5. Stock des Gebäudes mit der Nummer 11 wurde von den tollen Veranstaltungen im anderLand geschwärmt. Etwa von einer Lesung mit Charlotte von Mahlsdorf. Charlotte hatte mir damals ihr Buch signiert …

Nachdenklich machte mich die Thematisierung von trans Menschen ein paar Meter weiter gegen den Strom an der Aare auf einer Parkbank im Dunkeln. Ich frage mich, warum die trans Person im Spiel so traurig dargestellt wird.

Schmunzeln musste ich bei der letzten Station des Rundganges beim ehemaligen «Zwätschgegrill». Da wurde nicht nur die damalige Lebensrealität von schwulen Männern geschildert und auch über den damaligen Slang («Schwestern», «Zwätschge» …) gesprochen, sondern auch «meine» Gedenktafel aufgestellt. Es war irgendwann im Sommer 2019 als ich auf der Webseite von hab queer bern den Vorschlag machte, dass doch eine solche Tafel in Erinnerung an den «Zwätschgegrill» zum 50. Vereinsjubiläum angebracht werden könnte.

Und selbstverständlich sind beim Spaziergang der Aare entlang nicht nur sexuelle Orientierungen, sondern auch Geschlechtsidentitäten und die Auflösung des binären Geschlechtssystems Thema. Da passt es, dass alle Rollen während dem Stadtrundgang von allen Geschlechtern gespielt werden – und damit das Publikum auch verwirrt, dass eine als männlich gelesene Person beispielsweise eine Lesbe spielt. Schliesslich wissen wir, dass das äussere Erscheinungsbild nicht auf das tatsächliche Geschlecht schliessen lässt, sondern eben die Definition des Geschlechts im Kopf stattfindet.

Der Rundgang «Queer durch Bern» begeisterte mich! Da wurde viel erzählt, was mit mir und meiner persönlichen Vergangenheit zu tun hat. In die Gegenwart zurück geholt wurde ich erst beim anschliessenden Apéro in Marcel’s Marcili gleich gegenüber vom ehemaligen «Zwätschgegrill». Simone Klemenz von Bund/BZ befragte mich für einen geplanten Zeitungartikel. Die Redaktorin wollte u.a. von mir wissen, wie ich die Lage von Gewalt und Hass gegen queere Menschen in Bern beurteile. Meine Antwort: «Im Gegensatz zu Zürich wurde hier in Bern eine Vorlesestunde von Dragqueens für Kinder nicht durch einen wütenden Mob gestört. Gewalt und Hass gegen queere Menschen findet in Bern nicht unbedingt offen statt. Aber der Ton gegenüber queeren Menschen ist härter geworden. Die Hetze gegen die queere Gemeinschaft wird salonfähig. Schlagwörter wie ‹Gender-Mainstreaming›, ‹Trans-Hype› und ‹Queer-Ideologie› sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen – wohl zuletzt auch dank Vorbildern wie von noch Bundesrat Ueli Maurer mit seiner Bemerkung: ‹Ob meine Nachfolge eine Frau oder ein Mann ist, ist mir eigentlich gleich. Solange es kein ES ist, geht es ja noch›».

Russland

Ein queerer Stadtrundgang wie hier in Bern wäre in Russland wohl (nicht) mehr möglich. Im Beisein von Minderjährigen waren Äusserungen oder Darstellungen von «nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen» bereits verboten. Letzte Woche hat Russland das seit 2013 bestehende Gesetz nun auch auf Erwachsene ausgeweitet. Betroffen sind sowohl Beiträge auf Webseiten und sozialen Netzwerken wie auch Inhalte von Büchern, Filmen und Werbung.

Jegliche positive Darstellung etwa von lesbischer und schwuler Liebe ist nun strafbar. Und auch im Umgang mit Kindern und Jugendlichen wurde der Verbotskatalog nochmals deutlich erweitert. An Minderjährige dürfen keine Informationen mehr über Geschlechtsangleichungen weitergegeben werden. Auch dürfen in Kinos keine Filme mehr gezeigt werden, wenn sie aus Sicht der russischen Justiz «nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen fördern».

Bei Verstössen drohen hohe Geldstrafen von bis 200’000 Rubel (rund 3200 Euro) – Unternehmen und Organisationen von bis zu fünf Millionen Rubel (knapp 80’000 Euro). Ausländer können mit 15 Tagen Haft und einer Ausweisung aus Russland bestraft werden. Mit dem verschärften LGBTIQ-Gesetz wird es für queere Menschen fast unmöglich in Russland frei zu leben. (Wie gehen wir hier bei uns in der Schweiz eigentlich mit queeren Geflüchteten aus Russland um?)

Personensicherheitsüberprüfung

Um die 70’000 Personen, die mit klassifizierten Informationen zu tun haben, und für die Bundesverwaltung oder der Armee arbeiten, müssen sich der sogenannten Personensicherheitsüberprüfung unterziehen. Ziel dabei ist, Leute herauszufiltern, die erpressbar oder korruptionsanfällig sind. Durchgeführt wird dieser Charaktertest von einer Fachstelle im VBS.

Was diese Personenprüfer*innen abklären dürfen, regelt eine neue Verordnung, die bis Ende der letzten Woche in der Vernehmlassung war. Bisher wurden bereits strafrechtliche Verurteilungen und Schulden überprüft. Neu soll nun auch explizit die Intimsphäre und die Sexualität untersucht werden dürfen – obschon die Intimsphäre von Menschen verfassungsrechtlich im höchsten Mass geschützt wird.

Bei mir läuten an dieser Stelle die Alarmglocken. Geht das VBS da wieder zurück zu einer Praxis, die bis in die 1990er-Jahre gängig waren. Damals war es üblich, Homosexuelle in den Dienstunterlagen mit den mit Bleistift angebrachten Buchstaben «HS» zu kennzeichnen.

Welche Informationen hält das VBS aber aktuell für nicht sicherheitsrelevant? Etwa noch immer Homosexualität? Gegenüber den Tamedia-Zeitungen sagt VBS-Sprecherin Carolina Bohren: «Die sexuelle Ausrichtung per se stellt kein erhöhtes Risiko für die Sicherheit dar.» Werde diese sexuelle Ausrichtung aber nur im Geheimen, zwanghaft oder als Sucht gelebt, könne sich dadurch in sicherheitsrelevanten Funktionen eine Erpressbarkeit ergeben.

Wird das VBS nun beispielsweise auf Tinder überprüfen, ob Mann angibt auch auf Männer zu stehen? Wird schon jemand zum Risiko, nur weil er noch nicht an die grosse Glocke hängt, dass er das gleiche Geschlecht liebt?

Absurd!

Auch vor allem darum, dass im März dieses Jahres der Nationalrat deutlich ein Postulat der SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf angenommen hat, das den Bundesrat beauftragt, das eingangs bereits geschilderte Unrecht gegenüber Homosexuellen in der Armee aufzuarbeiten. Diese Markierung mit den beiden Buchstaben «HS» hatte für Betroffene damals weitreichende Folgen. Und selbst nach der Revision des Sexualstrafrechts 1992 habe es noch solche Einträge und unbestätigte Hinweise auf schwarze Listen gegeben, um Schwule in der Armee von höheren Dienstgraden fernzuhalten*. Bei der Debatte über das Postulat sagte Verteidigungsministerin Viola Amherd noch, dass der Bundesrat den Umgang der Armee mit Homosexuellen und anderen Minderheiten als relevantes Thema anerkenne – was jetzt mit der neuen Praxis der Personensicherheitsüberprüfungen wenig glaubwürdig klingt.

Leihmutterschaft

Zwei Männern, die in der Schweiz in eingetragener Partnerschaft leben, wurden 2011 mit Hilfe einer Leihmutterschaft gemäss den Gesetzen des US-Bundesstaates Kalifornien Eltern eines Kindes. Das Schweizer Bundesgericht jedoch lehnte die gemeinsame Elternschaft ab. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) entschieden, dass die Schweiz durch die Verweigerung der Anerkennung der Elternschaft der beiden Väter das Kind in seinem Recht auf Familienleben verletzt.

Die Konsequenz daraus: Die Elternschaft zweier Väter, die durch ein ausländisches Gericht besiegelt wurde, muss zur Wahrung des Kindswohls auch in der Schweiz anerkannt werden.

Nun sind Gerichte in der Schweiz und auch die Politik gefordert, dass die Elternschaft zweier Männer, die sich im Ausland durch eine Leihmutterschaft einen Kinderwunsch erfüllen, rasch und unbürokratisch anerkannt wird. Das ist im Interesse des Kindes – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festhält.

Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn

Wie schön! Ab dem 1. Juni 2023 werden sich auch gleichgeschlechtliche Paare der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, die dies wünschen, kirchlich trauen lassen können, sofern sie die erforderliche standesamtliche Bescheinigung vorlegen.

In der Frage der «Ehe für alle» hätten sich die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn bewusst nicht den Weg des automatischen rechtlichen Nachvollzugs gewählt. Vielmehr haben sie einen breiten Diskussionsprozess durchgeführt. So habe – wie ich einer aktuellen Medienmitteilung entnehme – im Jahre 2021 zu dieser Thematik eine Gesprächssynode stattgefunden. Im Mai 2022 genehmigte die Sommersynode die nötigen Anpassungen in der
Kirchenordnung. Und da alle Änderungen in der Kirchenordnung zwingend in einer zweiten Lesung beraten werden müssen, gelangte das Traktandum diese Woche an der Wintersynode erneut zur Beratung.

Und das Kirchenparlament stimmte den Änderungen im Sinne der «Ehe für alle» nach «kurzer sachlicher Diskussion mit 141 Ja-Stimmen zu 15 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen zu», wie ebenfalls in der erwähnten Medienmitteilung steht.

Sobald die Referendumsfrist verstrichen ist, wird die neue Regelung in Kraft treten – was eben bis Mitte des nächsten Jahres dauert. Mich dünkt, die nehmen das mit der «Ehe für alle» in den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn päpstlicher als der Papst. Übrigens: In der Christkatholischen Kirche der Schweiz können sich Frauen- und Männerpaare seit dem 1. Juli dieses kirchlich trauen lassen – und zwar, wie ich der entsprechenden Medienmitteilung der Christkatholischen Kirche der Schweiz entnehme, werden gleichgeschlechtliche Paare nach dem gleichen Ritus eingesegnet und in gleicher Weise in die Eheregister eingetragen wie eben ungleichgeschlechtliche Paare.

*Am 17. Mai 1992 stimmten – nach einem Referendum der EDU – die Schweizer*innen an der Urne der Revision des Sexualstrafrechts zu. Mit der Revision wurden endlich für Homosexuelle die gleichen Massstäbe wie für Heterosexuelle bezüglich Schutzalter, Prostitution und geschlechtliche Handlungen im Militär gesetzt.

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