Sonntagskolumne: Wann sind Angehörige eigentlich Angehörige? Oder: Auch die Wahlfamilie ist Familie

Eines der vieldiskutierten Themen im Moment ist der Wert von Arbeit von Menschen, die sich ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern. So will der Nationalrat beispielsweise einen «Nationalen Tag der betreuenden Angehörigen» einführen. Und nächste Woche setzt die Stadt Bern am diesjährigen Forum «Bern 60plus» betreuende Angehörige in den Fokus.

In der Einladung zum Forum «Bern 60plus» lese ich im Einleitungstext, dass 20 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer zwischen 25 und 80 Jahren mindestens einmal pro Woche eine erwachsene Person unterstützen und so öffentliche Unterstützungsdienste entlasten. Ihre Arbeit ist unverzichtbar – und gleichzeitig zeitaufwändig und weitgehend unsichtbar. Und: Die Finanzierung von Betreuung ist in der Schweiz nach wie vor nicht geregelt.

Da hat die Motion von Pierre-Yves Maillard (SP), der der Nationalrat gestern mit 105 zu 77 Stimmen zugestimmt hat, eher symbolischen Charakter. Die Motion verlangt, jeweils den 30. Oktober als Tag der offiziellen Anerkennung und des Dankes an pflegende Angehörige zu begehen –, was sie für die Hilfe und Betreuung zuhause leitsteten, gehe in die Milliarden, wie Motionär Maillard im Rat ausführte. Die Motion geht noch an den Ständerat.

In einer Diskussion machte mich Max Krieg von der Fachgruppe «Alter» der unserer LGBTI-Organisationen auf einen gerade für uns queeren Menschen wichtigen Punkt aufmerksam: Wie weit wird der Begriff «Angehörige» in all diesen Diskussionen gefasst oder verstanden?

«Wir sind, um es mit dem 1984 an Aids verstorbenen Philosophen Michel Foucault zu sagen, eine eigene Spezies. Dies zeigt sich besonders im Alter, wenn die Kraft zum erneuten Verbergen, zum Doppelleben und zum ständigen Sich-erklären nicht mehr vorhanden ist – und der Wille dazu erst recht nicht. Dann wollen wir mit Menschen Zusammensein, die ähnlich gelebt haben und ähnlich ticken.»
Ernst Ostertag

Die in den 1950/1960ern leidende und in den 1970/1980ern kämpfende Generation queerer Menschen ist alt geworden und hat Angst davor, sich in altersbedingten Abhängigkeiten (Spitex, Alters- und Pflegeheimen) wiederum verstecken zu müssen. Sie befürchten, dass das Personal nicht entsprechend geschult ist und/oder die anderen Bewohner*innen queerfeindlich sind. Zudem hat die ältere Generation queerer Menschen meistens «andere Leben» geführt als die heteronormative Mehrheit – die Altersvorsorge «Kinder» fehlt meistens. So wurde oft (und ist wohl teilweise noch immer so) der Bekannten- oder Freundeskreis zur Familie (Wahlfamilie) und nicht die direkten Angehörigen (biologische Familie).

Wie geht nun die heteronormative Gesellschaft, die heteronormative Politik damit um, wenn eben Angehörige aus der Wahlfamilie die Betreuung von Bezugspersonen übernehmen, die Unterstützung brauchen – eben etwa Aufgaben im Haushalt helfen, sie zu Terminen begleiten, Administratives erledigen oder sie einfach «nur» besuchen?

Diskussion

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.